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Jerusalem: Auf’s Auswärtige Amt kann man hören, muss man aber nicht.

Am nächsten Morgen aßen wir in Abrahams und Ruths Wohnung das zum Frühstück, was unsere Vorratstüten so hergaben. Hummus, Brot, Obst. Alles Gott sei Dank weder Fleisch noch Milch, kann deshalb mit jedem vorhandenen Besteck oder Geschirr gegessen werden, ohne, dass irgendwas davon im Anschluss im Müll landen oder in einer aufwändigen Zeremonie gereinigt werden muss.  Großer Vorteil von veganem Essen.

Während unsere Gastgeber noch selig schliefen, hatten Tal und ich einen Plan: Wir wollten zum morgendlichen Rosh Hashanah Gottesdienst in eine nahegelegene, reformierte Synagoge. Das war Tal leider gestern sehr spontan auf dem Weg nach Jerusalem eingefallen, weshalb ich ich recht unwohl fühlte in meinen nicht die Knie bedeckenden Shorts und dem nur knapp die Schultern bedeckenden T-Shirt. Aber egal, ich wollte das ja mal sehen. Also ging es los.

Der Gottesdienst lief schon etwas über eine halbe Stunde, als wir ankamen. Das war absichtlich so geplant worden, da sich diese Art Gottesdienst sehr gerne über mehrere Stunden hinzieht und es offenbar keine Seltenheit ist, dass Menschen kommen und gehen, wie sie gerade lustig sind. In einer Ecke saßen Kinder über einem Brettspiel, in einer anderen unterhielten sich zwei der Gottesdienstbesucher, während vorne jemand vor- und der Rest der Gemeinde nachbetete. Es war ein echtes Spektakel. Mir war ein Hebräisches Gebetsbuch in die Hand gedrückt worden, und ich gab mir alle Mühe, wengstens mitzulesen, doch bei unverhofftem Textsprung Nummer drei war ich endgültig raus und klappte resigniert die Buchdeckel aufeinander. Neben mir saß Tal, wie auch alle anderen Männer im Gottesdienst mit Kippah und Gebetsschal versehen, und betete fröhlich mit. Als Sohn zweier Rabbis wusste er halt, was Sache war, und die Kippa hatte er draußen vor der Synagoge einfach plötzlich aus seiner Jeanstsche gezaubert.

Zweieinhalb Stunden saß ich da und war schwer fasziniert. Es wurde gesungen und aus der Tora gelsen (was ja bekanntlich eine echte Zeremonie ist, da zieht erstmal jemand mit dieser riesigen Schriftrolle durch die Reihen, jeder berührt sie mit dem Gebetsbuch oder -schal und küsst dann auf diese Stelle, dann wird unter Gesang ausgepackt, gelesen, unter Gesang hochgehalten, unter Gesang wieder verpackt, noch einmal durch die Reihen getragen… na, was ich sagen will, ist, es ist ein ziemlicher Akt) und, typisch für Rosh Hashanah, wurde mehrmals die Schofar geblasen: Ein trompetenartiges Instrument, gefertigt aus dem Horn eines Widders, welches eindrucksvoll aussieht aber eher nach Partytröte klingt. Irgendwann war das Spektakel vorbei, und irgendwie hatte ich mich trotz dessen, dass ich absolut überhaupt und gar nichts verstanden hatte, nicht ein mal gelangweilt. Ich war die ganze Zeit über damit beschäftigt, alles wie ein Schwamm aufzusaugen um hoffentlich bei meinem nächsten Besuch in der Synagoge irgendwas wiederzuerkennen.

Vor der Synagoge gab es dann noch etwas essen, Tal und ich schnappten uns jeweils eine frische Dattel und verzogen uns dann, denn um eins war traditionelles Rosh Hashanah Mittagessen bei Abraham und Ruth angesagt.

Es gibt offenbar bestimmte Speisen, die man zu bestimmten Feiertagen in bestimmter Reihenfolge mit bestimmten, vorher vorgetragenen Segenswünschen isst. Zu Pessach war mir das klar gewesen, von Rosh Hashanah allerdings hatte ich keine Ahnung. Es gab die veganen Dinge aus der Liste aller Lebensmittel, aus lauter Rücksicht auf mich, ich glückliche. Das bedeutete: Traubensaft (eigentlich Wein, aber Ruth ist schwanger und ich trinke nicht), Apfel mit Honig (wohl ganz besonders typisch für diesen Feiertag), frische Datteln, Brot mit Salz und Granatapfel. Tal sprach jeden Segen einmal auf Hebräisch und dann einmal auf Englisch. Außerdem wurden sich vor dem Brot noch einmal in einem Ritus die Hände gewaschen: Wasser in ein seltsames Gefäß mit zwei Henkeln füllen, dann drei Schwapp über die linke, dann die rechte, und wieder die linke Hand geben. Dann die Klappe halten, bis am Tisch der nächste Segenswunsch gesprochen wird, für mich die schwerste Aufgabe. Funktionierte aber.

Nach Vollendung dieses Ablaufs gab es Polenta mit Pilzen und Nüssen und Salat, sowie natürlich alles, was von den rituellen Speisen noch so übrig war. Ich genoss das Ganze sehr, und zum Nachtisch fand Ruth für mich statt der Vollmilchpralinen sogar noch eine Tafel dunkle, milchfreie Schokolade im Kühlschrank. Das ist der Vorteil daran, dass koscheres Essen hier so verbreitet ist: Jeder weiß genau, wo Fleisch, Milchprodukte, Fisch oder Eier drinstecken und wo nicht. Oft gibt es Sojaprodukte, falls das Steak doch mit Käse überbacken oder in einer Sahnesoße zubereitet werden soll. Passt mir bestens.

Nach dem Mittag machten Tal und ich uns zu Fuß auf den Weg in die Altstadt von Jerusalem. Daran erinnernd, dass es sich bei Rosh Hashanah um einen der größten jüdischen Feiertage des Jahres handelt und es außerdem Freitag war, möchte ich an dieser Stelle einmal aus den aktuellen Reise- und Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amtes für den Staat Israel zitieren:

„In den letzten Wochen kam es wiederholt zu Ausschreitungen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften in der Umgebung des Tempelbergs (Haram al-Sharif) sowie in angrenzenden Stadtvierteln Ost-Jerusalems. Insbesondere an Freitagen gab es bei gewalttätigen Auseinandersetzungen mehrere Todesopfer und zahlreiche Verletzte.
Obwohl sich die Lage etwas entspannt hat, ist es nicht auszuschließen, dass es auch weiterhin zu Ausschreitungen in der Umgebung des Tempelbergs (Haram al-Sharif) kommt.

Besucher sollten daher freitags sowie an muslimischen und jüdischen Feiertagen die Altstadt von Jerusalem sowie die angrenzenden Ost-Jerusalemer Stadtviertel, vor allem At-Tur (Mount of Olives), Ras Al ‘Amud, Wadi Joz, Silwan und Al ‘Isawiya, nach Möglichkeit meiden und im Übrigen in der näheren Umgebung der Altstadt besondere Vorsicht walten lassen. Darüber hinaus wird geraten, sich tagesaktuell über diese Reise- und Sicherheitshinweise sowie über die Medienberichterstattung zur Sicherheitslage informiert halten.“

Das war mir also bewusst, Tal eher nicht. Als ich ihn darauf ansprach, kam wenig mehr als ein Schulterzucken, die Zusage, dass es „wirklich kein Problem “ sei und dann, mit ironischem Unterton, dass er mich „schon retten würde“. Nun, er war ja hier der Israeli, also glaubte ich der Sache einfach mal und trottete neben ihm her, durch die brennende äquatorialsonne, mitten hinein in die jerusalemer Altstadt. War ja nicht das erste Mal, dass ich die Sicherheitshinweise galant in der hinterletzte Ecke meines Kopfes deponierte. Einfach mal Angst haben und trotzdem machen, ist ja hier das aktuelle Motto.

Hinter eindrucksvollen, dicken Stadtmauern wartete neben den obligatorischen, chinesischen Reisegruppen das arabische Viertel mit seinem Markt auf uns. Das Ganze erinnerte mich sehr an Südostasien, nur, dass der angebotene Klimbim thematisch eher in den Nahen Osten passte. Asien war es ja trotzdem.

Als wir uns zwischen den hohen Mauern hindurch und an den meisten Markständen vorbeigearbeitet hatten, standen wir plötzlich an einer Sicherheitsschleuse. Metalldetektor und Taschenkontrolle waren angesagt, außerdem legte ich meine „modesty-gear“ (etwa: Sittsamkeisausrüstung) an: Abraham und Ruth hatten mir zwei große Schals geliehen, von denen ich einen als Rock um meine Hüfte und einen über Schultern und Brustkorb warf. So eingehüllt schwebte ich unbehelligt durch die Kontrolle und direkt auf die Klagemauer zu. Da war sie also, die Klagemauer in Jerusalem. Ein weiterer Haken auf meiner mentalen Bucketlist.

Da für Männer und Frauen getrennte Bereiche an der Mauer vorgesehen sind, verabredete ich mich mit Tal hinter dem Ausgang und lief zu meinen Geschlechtsgenossinnen an der rechten Mauerseite. Ich hatte ganz standesgemäß einen Wunsch auf einen Zettel notiert, den ich fachgerecht zusammenfaltete und in einer Lücke zwischen zwei Steinen platzierte. Um mich herum schluchzte und weinte es, Frauen pressten ihre Stirn gegen den warmen Stein, lasen in der Tora, beteten mit gesenkten Häuptern. Ich ließ mich auf einem der aufgestellten Stühle im Schatten nieder und ließ das Ganze ein wenig auf mich wirken. Ich hier, Klagemauer dort, Al-Aqsa-Moschee über mir und nur für Moslems zugängig, den Blick auf die goldene Kuppel durfte ich trotzdem genießen.

Als Tal und ich hinter dem Ausgang wieder aufeinandertrafen, blickten wir auf eine aktuelle, archäologisch Ausgrabungsstätte ganz alter Straßen. Meine Begleitung wusste beeindruckend viel über die Geschichte seines Volkes und dieser Stadt, und ich hörte gerne zu. Leider kann ich das alles nicht so wiedergeben, dass es dem Originalvortrag gerecht werden würde. Aber spannend war es, so viel kann ich sagen.

Um halb fünf traten wir den Heimweg an. Der führte uns quer durch das jüdische Viertel, in dem sich die orthodoxen Juden häuften, welche man in Jerusalem sowieso auffällig oft antrifft: Schläfenlocken, Anzug, schwarzer Hut, die Frauen in langer Kleidung und mit Kopftuch oder Perücke (wenn schon Haar, dann doch bitte nicht das eigene). Meine „Was ist dies? Was bedeutet das? Warum machen die das, und was machen die da?“-Fragen wurden geduldig beantwortet und mit ein wenig Zusatzwissen angereichert, und wenn mir an diesem Tag irgendetwas klarwurde, dann wohl die Tatsache, dass ich in etwa nichts über das Judentum wusste und alles darüber lernen wollte. Ich hab ja noch ein halbes Jahr Zeit.

Auf dem Rückweg sammelten wir das Auto ein und fuhren damit zurück zur Wohnung von Abraham und Ruth. Ich gab die Utensilien meiner modesty-gear wieder ab und packte meine sieben Sachen. Während ich all das tat, passierte Ruth ein kleiner Fauxpas: Sie schaltete das Licht in der Küche an. Das stellt konservative Juden nun vor eine echte Herausforderung: Es war Rosh Hashanah und morgen war Shabbath, an dem man genau so wenig Lichtschalter betätigen durfte. Auch durften sie niemanden darum bitten, das Licht wieder auszuschalten, also müssten sie wohl in den kommenden eineinhalb Tagen mit eingeschaltetem Küchenlicht leben. Doch ich, weitsichtig wie ich bin, wusste um meine nichtjüdische Narrenfreiheit und lief, quasi völlig ausversehen, kurz bevor Tal und ich uns auf den Heimweg machen mal gegen den Lichtschalter an der Wand. Upps. Kann ja mal passieren, vor allem dann, wenn man nicht an die Regeln des Shabbaths gewöhnt ist.

Dann ging es für Tal und mich wieder in Richtung Tel Aviv. Auf dem Weg sah ich auffällig oft die Israelischen Sperranlagen zwischen Israel und dem Westjordanland. Von den riesigen, grauen Betonblöcken, den bedrohlich wirkenden Stacheldrahtrollen darauf und den Wachtürmen alle paar hundert Meter fühlte ich mich sehr an das geteilte Deutschland erinnert. Also, nicht, dass ich daran Erinnerungen hätte, aber wie die Mauer aussah weiß ich ja schon irgendwie. Jetzt bekam ich gleich noch einen Eindruck davon, wie sie sich angefühlt haben musste. Einschüchternd, brutal und beängstigend. Damit möchte ich nicht sagen, dass sie unnötig ist. Oder, dass sie nötig ist. Um bei diesem Thema einen Standpunkt beziehen zu können, bin ich einfach noch nicht gut genug informiert. Ich sage es einfach, wie es ist: Dieses Ding macht einem Angst und riecht nach Krieg. Punkt.

Auf halber Strecke picknickten wir die Reste unseres Reiseproviants weg, auf den Treppenstufen vor einer Autobahntankstelle, an der es nach Motoröl und Benzin roch. Vor uns ging eine dünne Mondsichel auf, und streundende Katzen baten uns hin und wieder jammernd um eine Spende. Wir gaben, was wir zu geben hatten, verputzten Brot, Hummus, Tomaten, Äpfel und gefüllte Weinblätter aus der Dose und traten dann das letzte Stück Heimweg an.

Im nächtlichen Tel Aviv setzte ich Tal vor seiner Haustür ab und fuhr dann auf einen Parkplatz nahe der Wohnung, in der ich momentan unterkommen darf. Als ich Motor und Licht ausgeschaltet hatte, musste ich einen Moment lang sitzen bleiben und in die Ferne gucken. Ich war quer durch Israel gefahren, hatte Wüste und das Tote Meer gesehen, an der Klagemauer gebetet, das Westjordanland durchquert, an einem jüdischen Gottesdienst teilgenommen, ein traditionelles Feiertagsessen miterlebt. Und ich war gerade drei Nächte im heiligen Land. Außerdem hatte genau in dem Moment, als ich auf den kostenlosen Parkplatz gefahren war, ein weißer Audi den einzigen Platz für meinen kleinen Micra freigegeben. Wenn es jemals an der Zeit gewesen war, mal so richtig dankbar zu sein, war es wohl in diesem Moment.

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