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Herzliya: Trautes Heim…

Es ist endlich soweit, ich bin umgezogen. Gestern morgen ging es los. Bewaffnet mit einem 33 Kilo schweren Geschoss von Gepäckstück auf Rollen und meinem kleinen Fjällraven-Rucksack umarmte ich Carmi und arbeitete mich – langsam aber sicher – über zwei Bordsteinkanten hinweg zur angepeilten Bushaltestelle.

Als der Bus kam, muss ich lustig ausgesehen haben. Yoga ist ja eine schöne Sache, ich habe mich bereits von null auf zehn Liegestütze hocharbeiten können, doch zum problemlosen Bewegen all meiner Habseligkeiten reicht es dann doch noch nicht ganz. Also wurde jede Kante oder Stufe folgendermaßen überwunden: Auf Stufe stellen, Koffer an die Kante rollen, umdrehen, in die Knie gehen und möglichst rückenfreundlich das ganze Gerät die Stufe hoch zerren.

Im Bus wurde das ganze gefolgt von einem eher wenig grazil anmutenden Catwalk den Mittelgang entlang, den Koffer vor mir herschiebend, bis ich einen freien Sitz fand, auf dem ich mich mit einer halben Arschbacke niederlassen konnte, während ich mit dem Rest meines Körpergewichtes den Koffer vom Wegrollen abzuhalten versuchte. Bei jeder Kurve und scharfen Bremsung (und davon gibt es hier viele) ächzten meine Bandscheiben, doch irgendwann war ich an meinem Ziel angekommen.

Voller vorfreude und mit schmerzenden Oberarmen saß ich mit baumelden Beinen auf der Sitzbank einer Bushaltestelle in Nord Tel-Aviv und wartete darauf, dass Batia, meine Vermieterin, mich abholen würde. Die kam höchst zuverlässig angefahren, ich wuchtete mit pochendem Herzchen meinen Koffer in den dafür vorgesehenen Raum, fürchtend, dass ich im Zuge dieser Aktion, für die ich ja offenbar völlig unqualifiziert war, zwei bis sieben Beulen in die Karosserie rammen würde. Tat ich nicht, aber ich schrammte wirklich nur haarscharf daran vorbei.

Im Auto erzählte Batia mir in gewohnt zähem Englisch von ihren Enkeln, fuhr mit mir, als wi in Herzliya angekommen waren, meinen Fußweg zur Uni ab, und parkte dann vor dem Haus, in dem meine neue WG auf mich wartete. Im zweiten Stock. Ohne Aufzug.

Als ich meinen Koffer mit einem lauten „KLONK“ aus dem Auto auf den Bordstein knallen ließ, sah Batia ein wenig besorgt aus. „Willst du vielleicht was auspacken und zwei Mal gehen?“ Nein. Wer zwei Mal geht ist schwach, erste Einkaufstüten-Regel und anwendbar auf verschiedene andere Bereiche des Lebens, wie zum Beispiel Umzüge im Großraum Tel Aviv. „Nein danke, das geht schon, ich brauche nur ein bisschen länger.“ sprach ich selbstbewusst, während ich in professionell gebeugter Sisyphus-Manier mein Gepäck vor mir herschob.

Da waren sie also, die Treppen. Interessant. Gottseidank hatte ich bereits eine erprobte Bordsteinkanten-Technik, von der ich hoffte, dass sie mich und mein Köfferchen sicher an die Türschwelle meiner WG bringen würde.

Ich kürze hier mal ab: Niemals noch nicht hat mir jemals irgendwann meine Lendenwirbelseule so weh getan wie gestern abend, heute nacht, heute morgen, vorhin und jetzt. Ich habe versucht das ganze wegzuyogan, mit mäßigem Erfolg. Das könnte zum Teil auch an meiner wie erwähnt kostenlosen Matratze gelegen haben, doch dazu gleich mehr.

Also. Ich, Koffer, Tür. Besorgte Batia und eine Mitbewohnerin, deren Augen soetwas sagten wie: „Jap, ich war auch schon an diesem Punkt in meinem Leben.“ Amandine, ebenfalls internationale Studentin am IDC im kommenden Semester, war und ist Politikstudentin aus Belgien, vor zwei Wochen angereist und eine meiner drei Mitbewohner/innen. Trinkt nicht, raucht nicht, steht nicht auf Partys, gewillt die Wohnung einer Grundreinigung zu unterziehen, gute Voraussetzungen für ein weitestgehend reibungsloses Zusammenleben.

Ich astete meinen Koffer in mein Zimmer. Da stand das von Batia erwähnte Bett und außerdem die angelieferte Matratze – die offenbar unabhängig davon, wie man sie drehte oder wendete, 15cm zu breit für den Bettrahmen war, deshalb interessant kurvig auf dem Metallgestell lag. Damit erübrigte sich wenigstens die Frage, ob ich auf der linken oder der rechten Seite des Doppelbetts schlafen würde. Die Antwort „In der Kuhle“ hatten die aüßeren Umstände bereits selbst gegeben.

Als ich wieder aus meiner Tür trat, rannte ich beinahe in einen jungen Mann mit zerzaustem Haar, Schlafzimmerblick und Zahnbürste in der Hand. „Oh, hi! Sorry, dass ich dich in diesem Zustand störe sagte ich lachend, während der Herr schmunzelnd seine Hand ausstreckte. „Kein Ding. Ich bin Adach, freut mich!“ „Dito!“ sprach ich und ließ Mitbewohner Nummer zwei im Bad verschwinden.

Ich widmete mich weiter dem Auspacken meines Koffers, bis Batia verschwunden war, Amandine auf der Couch saß und Adach in der Küche stand und mich fragte, ob ich auch einen Kaffee wolle. Was für eine Frage!

Als wir alle drei mit einem heißen Kaffee versorgt auf den Sofas saßen und uns ansahen, ging es los. Ich sollte mich mal vorstellen. Das kann ich ja bekanntlich, also fing ich an zu erzählen. Dann erzählte Adach, dann Amandine, dann wieder ich, und irgendwie kamen wir alle ganz hervorragend miteinander klar.

Adach ist ein witziger Zeitgenosse. Seine Urgroßeltern sind in Auschwitz gestorben, seine Großeltern aus Nazideutschland nach Israel geflohen, deshalb spricht er ein bisschen Deutsch, ab und an, in vereinzelten Sätzen. Bei einem dieser Sätze schaute er mich wundervoll ausdruckslos an und sprach mit latent aggressivem Akzent, wie man ihn von bemühten Ausländern gewohnt ist: „Ichch binn SCHWUL!“ Das wunderte mich wenig, ich hatte das bereits vermutet, doch ich war froh, dass hier gleich mal alle Unklarheiten beseitigt wurden. Adach hat gerade sechs Jahre Militärdienst beendet (drei Jahre sind ja hier Pflicht für Jungs und Mädels nach der Schule) und wartet nun darauf, auch in Herzliya einen Studienplatz zu bekommen.

Als er rauchend am offenen Panoramafenster im Wohnzimmer saß (er ist laut eigener Aussage „sehr frankophil“, weshalb Amandine und er gerne mal ins Französische fallen) schaute er uns an und sagte: „Sollen wir vielleicht alle bei Landwer frühstücken gehen?“ Nun, es war 12:30 Uhr und mein Frühstück lag bereits fünf Stunden zurück, aber Landwer hat ein hervorragendes veganes Frühstücksangebot, also warum nicht?

Wir schlüpften also in unsere Schuhe, bewaffneten uns mit leeren Jutebeuteln (wir alle brauchten noch Essen für den anstehenden Schabbath) und trabten los zum Landwer-Café. Und Freunde, Kaffee können sie, die Israelis. Zwei groß-artige Coffeeshops sind nur fünf Gehminuten von meiner Wohnung entfernt, einmal Landwer und dann „Aroma“, die israelische Antwort auf Starbucks. Was könnte ich mehr wollen?

Bei Linsenomelette mit Tahini und Vollkornbrot, türkischem Kaffee und kostenlosem Wasser folgte dann mein erstes, offizielles Kreuzverhör. Ich hatte sowas bereits erwartet und glaube, dass es nicht bei nur diesem Verhör bleiben wird, aber das gestern war eben das erste, und damit besonders spannend. Es begann völlig unverhohlen und direkt: „Also, wie stehst du so als Deutsche zu Israel, den Juden und unserer gemeinsamen Geschichte?“

Puh Mann. Da muss man sich erstmal einen Weg ausdenken, auf dem man sich erfolgreich um alle möglichen Fettnäpfchen und Tretminen herummanövriert. An dieser Stelle sei euch viel Glück gewünscht, solltet ihr mal in diese Situation geraten. Mir ist es natürlich nicht gelungen. Aber ich glaube, ich habe doch eine ganz gute Figur gemacht. Nach etwa 30 Minuten schien Adach sich jedenfalls ziemlich sicher zu sein, dass er mit mir zusammenleben könne, als er sagte „Everything is fine darling, I love you!“ und dabei mit einer Hand abwinkte. Doch er bat mich darum, dass ich bitte nur auf Deutsch antworte, wenn er mich auf Deutsch anspricht, weil ihm die Sprache sonst manchmal Angst macht. Gut, soll mir recht sein. Ich bin ja nicht zum Deutsch sprechen hier.

Den Rest des Tages verbrachten wir damit, in der Drogerie Seife zu besorgen und uns mit Lebensmitteln einzudecken. Im Supermarkt herrschte die mir bereits bekannte Prä-Schabbath-Tsunami-Atmosphäre, bei der es schwierig ist, weniger als fünf Mal in hektische Mütter zu rennen oder noch halbwegs annehmbar aussehendes frisches Obst zu finden. Schließlich würden wir bald dreißig Stunden lang kein Essen mehr kaufen können, Gott bewahre!

Ich fand das Meiste von dem, was ich zu kaufen geplant hatte, und Adach das Schätzchen kaufte für seine berühmte Pastasoße Sojasahne, damit ich auch mitessen können würde. Nett! Zu Hause verstaute ich alles in einem stinkenden Kühlschrank und wühlte mich durch eine komplett klebrige Küche, um irgendetwas zu finden, in dem ich Essen zubereiten könnte. Da musste sich was ändern.

Adach verschwand bald nach unserer Rückkehr zu einem Abendessen mit seinen Geschwistern und ließ Amandine und mich in der Wohnung zurück. Diese Zeit nutzten wir, um uns bis um elf Uhr bestens über unser Leben zu unterhalten und vor allem, um einen ausgeklügelten Plan zu schmieden, wie wir diese, zugegebener maßen SAU DRECKIGE Wohnung irgendwie wohnlicher machen könnten. Das passierte dann heute.

Es ist aktuell 17:00 Uhr im gelobten Land und Amandine und ich haben heute nichts anderes getan als die Küche von der alles überziehenden Klebeschicht zu befreien. Gestartet haben wir um zehn heute morgen. Hier hat ich jemand offenbar sehr lange nicht im geringsten darum geschert, wie die Küche aussieht, und damit kann ich ja schlecht umgehen – ich liebe Essen!

Wir haben ALLES gemacht. Jeder Topf, jede Pfanne wurde eingeweicht, ausgekocht, entfettet. Etwa die Hälfte war verloren und wurde der Mülltonne gespendet. Jeder Schrank wurde ausgewischt. Die Gewürze durchsortiert und gereinigt. Der Kühlschrank geleert, mit Zitrone ausgerieben, mit Essig geputzt. Ich fand vier Wochen alte Hähnchenbrust, die den Gestank erklärte, und die beinahe dazu führte, dass Amandine und ich uns in solidem Mittelstrahl auf den frisch gewischten Küchenboden erbrachen.

Es war ALLES DRECKIG. Jetzt ist alles sauber. Was soll man auch sonst mit seinem Schabbath anfangen im gelobten Land? Busse fahren nicht, die Geschäfte sind geschlossen, die Israelis hängen bei ihren Familien rum, da kann man auch mal jahrzehnte alte Essensreste von Pfannenböden kratzen. Und verrottete Tierkadaver aus der Wohnung entfernen. Bah. Mir wird jetzt noch ganz anders.

Na jedenfalls finden Amandine und ich, dass die Männer uns jetzt einen Kaffee schulden. Adach ist seit gestern abend verschwunden, also vermutlich bei seinen Geschwistern geblieben. Und Mitbewohner Nummer vier, Michael, kennt keiner, da der momentan noch auf Semesterferienbesuch bei seinen Eltern in Kanada weilt. Wir vermuten in ihm den Hühnerbrustvergesser, doch das wird sich noch klären.

Alles in allem kann man wohl sagen, dass ich es schon viel schlimmer getroffen habe mit WG-Mitbewohnern. Also, soweit ich das bis jetzt beurteilen kann. Da kann natürich noch einiges passieren, aber aktuell bin ich doch ganz zufrieden. Übermorgen geht dann auch endlich die Uni los, was ich kaum noch erwarten kann. Mal sehen, was da so auf mich zukommt. Sicher viele neue Menschen – und viele neue Geschichten für mich und euch.

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