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Israel: Ganz normale Tage

Freunde, mein Alltag passiert hier so, trägt mich durch mein Auslandsssemster und fasziniert mich dabei jeden Morgen auf’s neue, obwohl es doch mein Alltag ist. Das will schon was heißen!

Keine Sorge, ich habe mich natürlich um neue Abenteuer gekümmert. Am kommenden Wochenende verschwinde ich mit ein paar Austauschstudenten mit zwei gemieteten Autos in die Golanhöhen und zum See Genezareth, um zu Wandern. Und eben habe ich mich für einen Trip angemeldet, von dem ich euch zu Weihnachten erzähle, wenn er vorbei ist, damit ihr mir zu Hause nicht mit Herzklabaster vom Stuhl kippt.

Bis ich von diesen Ausflügen berichten kann, müssen allerdings noch ein paar Tage vergehen, deshalb dachte ich, nehme ich euch einfach mal mit durch einen meiner „ganz normalen“ Tage hier im gelobten Land. Normalität ist in einem Land wie Israel doch ein sehr dehnbarer Begriff. Mir, so wie vielen Israelis, fällt vieles nicht mehr auf, was einem als Europäer eigentlich Unbehagen bereiten müsste. Aber dazu später mehr. Also. Los geht’s. Sonntag Morgen, die Woche geht los.

Um halb sieben öffnet klein Adar vorsichtig meine Zimmertür, fasst mich an die Schulter und weckt mich auf. Während er dann zum Duschen im Bad verschwindet, schleiche ich in die Küche und setze uns beiden schon Mal Kaffee auf. Während der durchläuft, ziehe ich mir was vernünftiges an und einige Minuten später treffen Adar und ich uns am Esstisch und besprechen den Tag. Adar und ich haben in unserer Beziehung zueinander als Mitbewohner ein komfortables „Ich hab Schnupfen, kannst du mal eben für mich riechen, ob dieses Shirt hier nach Schweiß stinkt?“-Level erreicht, was die Wohnung umso mehr zu meinem Zuhause macht. Hat Adar mich umarmt und ist verschwunden, hole ich meinen Laptop aus meinem Zimmer und arbeite ein wenig. Der Studentenjob in Berlin schläft nie.

Während ich dann da so sitze und arbeite, kriechen irgendwann auch Amandine und Mike aus ihren Löchern. Mike ist nach wie vor sehr schweigsam, aber wenn er was sagt, ist es lustig. Er geht morgens joggen, wünscht mir vorher viel Erfolg. Amandine macht sich Pitabrot mit Erdnussbutter zum Frühstück und verkriecht sich auf’s Sofa. Irgendwann bin ich durch mit meinen Texten, klappe meinen Laptop zu, stöpsel mir mein Hörbuch in die Ohren und mache mir Frühstück: Haferbrei, was sonst.

Dann, irgendwann, trete ich vor die Tür, weil ich zur Uni muss. Und das Spektakel beginnt.

Vor meiner Tür warten drei streunende Katzen. Als die Briten hier Kolonialmacht waren, hatten sie ein Rattenproblem, welches sie mit Katzenimporten zu lösen gedachten, damit auch erfolgreich waren, nur leider dabei ein Katzenproblem verursachten. Ich grüße die Damen und Herren freundlich, streichle die schwarze Katze, die sich anfassen lässt, und hüpfe auf den Bordstein. Es beinahe November, ich trage eine Jeans und ein T-Shirt, keine Jacke, es sind 23 Grad und es weht ein leichter Wind. Die Blumen vor unserem Haus blühen pink.

Auf meinem Weg zur Uni laufe ich unter Dattelpalmen entlang. Vor mir zwei 18-jährige Mädels, frisur und Lidstrich sitzen, nur der khakifarbene Overall stört das stylische Äußere. Sie erzählen und kichern, halten ihre Maschinengewehre mit beiden Händen vor ihrer Brust: Für sie geht heute die Arbeit mein Militär wieder los. Hinter mir klappert es, ich höre Schritte. Etwsa aus der puste holt ein junger Mann die beiden Mädels vor mir ein, gleiches Outfit, weniger Make-Up. Sein Maschinengewehr baumelt auf seinem Rücken hin und her. Die drei steigen vor mir in einen Bus und verschwinden.

Einige Minuten später sehe ich die Uni. Die hohen, hellen und modernen Gebäude sehen wichtig aus, in großen Lettern steht da „Lauder School of Government“ oder „Arison School of Business“ an den Häuserfronten und lässt alle Passanten wissen, dass hier gelernt wird. Ich könnte den direkten Weg zu dem Gebäude nehmen, das wäre die schnellste Variante, geht aber nicht. Deshalb mache ich einen Schlenker. Der gesamte Campus ist meterhoch eingezäunt und von Security bewacht. Eine Privatschule voll mit jüdischen Israelis ist ein zu schönes Ziel.

Auf meinem Weg zum Haupttor komme ich an zwei Betonblöcken vorbei, die verhindern, dass irgendjemand mit einem schweren gefährt in ebenjenes Tor hineinrasen kann. Ich selbst sage den beiden Sicherheitsbeamten hallo, zeige meinen Studentenausweis, öffne meinen Rucksack, bestätige, dass ich keine Waffen dabeihabe, und darf den Campus betreten. Hier herrscht reges Treiben, auf dem perfekt getrimmten Rasen liegen blaue Sitzsäcke, auf denen Studenten die Herbstsonne genießen. Es riecht nach Kaffee und Blüten, Studenten tragen Bücker unter dem Arm, haben Pappbecher in der Hand, unterhalten sich, schauen auf ihre Smartphones.

Ich lasse die Glasfront der neuen Bibliothek links liegen und mache mich auf den Weg zu meinem Vorlesungssaal. Erste Veranstaltung: „Theories in the Studies of Terrorism and Guerilla“. In der Uni muss jedes Gebäude auf jeder Etage einen Schutzbunker haben, genau so, wie jedes Wohnhaus hier einen Bunker im Keller hat. Neuere Bauten bekommen einen in jede Wohnung. Sicher ist sicher. Ich laufe also an den schweren Metalltüren des Schutzbunkers vorbei, an dem groß „SHELTER“ geschrieben steht, betrete das helle Auditorium ohne Fenster und setze mich in die erste Reihe. Die Stühle sind gepolstert, der Teppichboden neu, die Tische groß und schwer, die Technik modern. Dann geht die Veranstaltung los.

Als wir gerade über die psychologischen Hintergründe von Terrorattacken sprechen, geht der Alarm los. Und zwar nicht der Feuer- sondern der Terroralarm. Ein Geräusch, wie ich es nur aus Weltkriegsfilmen kenne, begleitet von gleißend hellen Blitzen aus einem Scheinwerfer an der Wand. Die Israelis bleiben voll entspannt, der Professor guckt verwundert, sein Teaching Assistant geht mal kurz vor die Tür, gucken, was da so los ist. Ich unterdessen habe Mühe, mich auf meinem Stuhl zu halten, während meine Nebennieren gut damit beschäftigt sind, mich hormonell auf eine schnelle Flucht vorzubereiten.

Der Teaching Assistant kommt zurück. „Alles gut, wir werden überleben.“ brüllt er, und setzt sich wieder auf seinen Platz. Kurz danach geht der Alarm aus. Der Professor lacht, und macht da weiter, wo er aufgehört hatte, ohne weiteren Kommentar. Ich kann leider nicht mitschreiben, weil meine Hand zu sehr zittert. Also gehe ich mal kurz an die frische Luft und atme drei Mal tief durch. Dieses Land macht mich fertig.

Nach den Vorlesungen wandere ich nach Hause. Durch’s eiserne Drehkreuz vom Campus, wieder vorbei an den Dattelpalmen und meinen felligen Türstehern, rauf in meine Wohnung. Ich sortiere meine Sachen, lese im Material für die kommenden Vorlesungen, koche schon mal Abendessen. Dann ziehe ich mich um, anderes T-Shirt, Sporthose, Laufschuhe. Es ist 17:50 Uhr, die Sonne ist inzwischen untergegangen, es sind immer noch 21 Grad draußen, perfektes Laufwetter. Also laufe ich los, hole meinen Kommilitonen Nico ab, der nur fünf Minuten von mir entfernt wohnt, und wir joggen durch das nächtliche Herzliya. Ich werde langsam immer besser, halte immer länger durch, und genieße die Ruhe in den Straßen nach einem langen Arbeitstag der Israelis.

Wieder zu Hause angekommen bin ich schwer verschwitzt, aber Amandine und Adar sitzen im Wohnzimmer auf dem Sofa und strahlen mich fröhlich an. Also besorge ich mir eine Schüssel und einen Löffel und setze mich mit einer Portion meines Vorbereiteten Abendessens zu ihnen, während wir den Tag besprechen. Das kann zwischen einer halben und sechs Stunden dauern, und ja nachdem, wonach uns an jenem Abend gerade ist, komme ich besonders früh oder besonders spät ins Bett.

So. Das mal so als Beispiel, damit ihr wisst, wie das hier so aussieht. Natürlich ist das keine Blaupause für jeden Tag. Manchmal muss ich auch was zu Essen kaufen, ihr versteht. Oder in der Uni beim Mittagessen mit meinen Kommilitonen mein Curriculum besprechen. Oder nach dem Unterricht quer durch die Stadt zu Rusne wandern, um mit ihr zu Abend zu essen und über Jungs zu lästern. Oder, wie am vergangenen Dienstag geschehen, meinen freien Wochentag mit allerlei Aktivitäten füllen…

Mein Dienstagmorgen begann früh. Um halb sieben klingelte der Wecker, was eigentlich kein Problem, am Dienstag aber doch eher unangenehm war, da ich am Vorabend auf irgendsoeiner Kontaktveranstaltung von meiner Uni gewesen war. Die hatte sich eher als Fleischbeschau dargestellt und mich deshalb nicht sonderlich begeistert, aber Isabella, Studentin aus Mailand, hatte mich gefragt, ob ich am nächsten Morgen nicht mitkommen wolle, sie habe eine Yogalehrerin im Nachbarort von Herzliya gefunden. Und sowas lasse ich mir ja bekanntlich nicht zwei Mal sagen.

Also schlürfte ich meinen Kaffee, schlüpfte wieder in meine Laufschuhe und joggte durch die Morgensonne nach Ranana.

Die Yogalehrerin war eine finanziell hervorragend situierte Mittsechzigerin aus den USA. Ihr Haus, in dem die Stunde stattfinden sollte, war eine Villa im Grünen, und weil wir nur fünf Mann (oder besser: Frau) und die Witterungsbedingungen gut waren, rollten wir unsere Yogamatten nicht im Studio, sondern draußen zwischen ihrem Pool und den perfekt gepflegten Zypressen und Granatapfelbäumen aus. Das war Israel von einer anderen Seite, und nicht weniger spannend als all das, was ich bisher sehen durfte.

Nachdem ich mal wieder eineinhalb Stunden lang professionell meine nicht vorhandene Flexibilität bewiesen hatte, nahm ich den Bus zurück nach Hause. Duschen, essen, Sachen packen, um 12 Uhr Rusne an der Bushaltestelle treffen: Wir wollten nach Tel Aviv.

Eine Stunde später saßen wir in meinem Lieblingscafé „Kleiner Prinz“ in der King George Street: Hier gibt es hervorragenden Kaffee, Zines und andere Kleinigkeiten von sozialen Künstlern, die altbekannten Macbook-Hipster, und vor allem gebrauchte Bücher zu Architektur, Philisophie, Kunst und Design, die sich in schier endlosen Regalen bis unter die Decke stapeln und ein wunderbares Hogwarts-Feeling in einem hervorrufen.

Wir tranken also zwei Tassen dieses hervorragenden Kaffees, bevor wir weiter durch die Gassen Tel Avivs zogen. Ich besorgte mir unterwegs eine Pita mit Falafel (ich war hungrig), dann schlichen wir durch den Hacarmel Markt, bis wir an die Galerie kamen, die zu besuchen wir uns ursprünglich vorgenommen hatten. Nur leider war ebenjene Galerie geschlossen, was vorher im Internet nicht ersichtlich gewesen war.

Doch ein Ausflug mit Klara wäre ja kein Ausflug mit Klara, wenn er durch eine solch nichtige Lappalie plötzlich weniger witzig und interessant würde. Meine Devise lautet ja immer: Erstmal essen. Also setzten wir uns auf die Treppenstufen vor der Galerie und aßen unser Mittag, während einige Meter neben uns ein paar Teenager in regelmäßigen Abständen einen Fußball mit lautem Krachen gegen ein Metallgitter schossen.

Gesättigt ging es weiter. Ich liebe Tel Aviv. All diese kleinen Gassen und Lädchen, die Menschen, die Palmen, dieser verrückte Mix aus europäischer Hauptstadt und nahöstlicher Metropole ist schon was ganz besonderes. Und da uns ja offenbar keine Kunsteinrichtung aufnehmen wollte, machten Rusne und ich uns auf den Weg, eine im Internet beschriebene Graffiti-Tour durch Tel Aviv’s Hipsterlocation Florentin zu unternehmen. Gesagt, getan.

Es dauerte nicht lange, nur einige Minuten und Momente der totalen Verwirrung, bis wir schließlich in einem verlassen Garagenviertel standen, umgeben von Wellblech und Backsteinwänden mit buntestem Graffiti.

„Was ist das hier, ein Drogenumschlagplatz?“

„Sieht eher aus, als wären das alles Werkstätten… Guck, da ist ein Tischler, der da baut gerade einen Motor auseinander und der… ja, gut, der vertickt vielleicht Gras.“

Schwer fasziniert lugten wir durch jedes Garagentor, welches uns das erlaubte. Um uns herum waren plötzlich keinerlei Touristen mehr zu sehen, es war still, bis auf das gelegentliche Schreien einer Kreissäge in der Ferne. Wir sahen so einiges. Eine Schneiderei, Tischlerei, KfZ-Werkstätten, ein kleines Theater mit einer Improv-Bühne, einen Töpfer, der herrlich grimmig dreinschaute, als er uns sah. Das war ein echtes Schlaraffenland für die in mir wohnende Neugier. Und Rusne war nicht weniger fasziniert.

Irgendwann stoplerten wir aus dem Garagenviertel heraus auf eine viel befahrene Straße und fühlten uns, als seien wir gerade aus einem Paralleluniversum gepurzelt. Also schlugen wir uns zufrieden den Staub aus den Kleidern und suchten uns ein Café, ein solches Erlebnis muss man ja immer erstmal mit Espresso begießen, ihr kennt meine Manieren.

Das echte Abenteuer des Tages begann allerdings erst, als wir uns auf den Rückweg machen wollten. Ich weiß nicht, ob ihr jemals schonmal von dem zentralen Busbahnhof in Tel Aviv gelesen habt, um ihn ranken sich allerlei Sagen, die ich hiermit gerne alle vorbehaltslos bestätige. Dieses Gebäude ist ein verdammtes Labyrinth, und ich schwöre, dass alle Geschichten von Reisenden, die Stundenlang keinen Ausgang finden konnten und sich dort gefangen sahen, wahr sind. Ehrlich.

Nach etwa siebzehn Kilometern Fußmarsch durch die Hallen des Bahnhofs und vielen Fragen auf gekonntem Hebränglisch fanden wir schließlich unseren Bus, die 502 nach Herzliya, es war ein Wunder. Gerade erleichtert, dass Rusne es doch noch pünktlich zur Uni schaffen würde, setzten wir uns hin – und sahen das Grauen.

Stau. Und zwar richtig. Vor dem Bus ein Meer aus tiefroten Lichtern, keine Lücke, keine Bewegung zu erkennen. Unser Bus plötzlich mittendrin. Was wir nicht bedacht hatten: Es war der Tag des Tel Aviv Marathon. Sowas steckt der ohnehin schon belastete Tel Aviver Stadtverkehr leider überhaupt nicht gut weg. Als noch ein Fünkchen Hoffnun in uns wohnte, dass es vielleicht eine Busspur gäbe, dass es sich hinter der nächsten Kreuzung eventuell auflösen könnte, zupfte der Busfahrer seelenruhig eine Tageszeitung aus einer Tasche neben sich und breitete den Dossierteil auf seinem Lenkrad aus. Damit war es besiegelt. Die 12 Kilometer nach Herzliya würden ein paar verdammt lange Kilometer werden.

Zwei. Einhalb. Stunden.

ZweiEINHALBSTUNDEN später fiel ich quasi aus dem Bus auf den Bürgersteig in Herzliya. Verwirrt, meines Zeitgefühls beraubt, schwach vor Hunger, Überlebende einer Schlacht, die ich nicht die meine gewesen war. Ich schleppte mich nach Hause. Es fing an zu regnen.

Aber das war es wert gewesen. Es war ein guter Tag. Und ich war glücklich.

 

2 Antworten auf „Israel: Ganz normale Tage“

Wow. Dolles Ding mal wieder. Gibst du den Katzen deine Essensreste? Ich würde auch gern mal wieder einen Kaffee mit dir trinken und über Jungs lästern. Bis bald, du Wunderkind.

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