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Kiev: Eine Nacht

Gestern Abend war verrückt. Bei all meiner Ratio habe auch ich meine weitlüftigen Momente, und diesem Falle brachte mich unverantwortliche Sorglosigkeit an einen ziemlich interessanten Ort. Aber fangen wir lieber vorne an.

Den ganzen gestrigen Tag über schien die Stadt sich gegen mich verschworen zu haben. Alles, was ich sehen wollte, war spontan und unangkündigt geschlossen, es regnete, der Bus kam nicht. Ich gab die Hoffnung nicht auf, sah mir ein paar Kirchen mit goldenen Kuppeldächern an und beschloss, dass es vermutlich smarter war, einfach wieder nach Hause zu fahren und ein Bisschen zu arbeiten, bis das Ballett losging. Zhenya hatte mir seinen Haustürschlüssel ausgehändigt und so verzog ich mich in die kleine Küche, während Hlafira vor ihrer Nachtschicht noch ein Nickerchen einlegte. Um fünf machte ich mich auf den Weg, veganes Abendessen finden, das ist hier wirklich überraschend einfach, wenn man weiß, wo man suchen muss.

Ich fand also eine Mahlzeit (3,50 für Wrap und einen Muffin) in Laufnähe zur Oper, wo um 19:00 Uhr das Ballett beginnen sollte. La Bayadere war eine atemberaubende Aufführung in einem Opernhaus, dem man den Glanz vergangener Tage zwar ansah, das ihn aber schon vor vielen Jahren verloren hatte. Irgendwie traurig. Ein Thema, das sich durch das ganze Land zu ziehen scheint: Hier war alles mal schön, war mal sehr kultiviert, hir ging es den Leuten mal gut. In der Vergangenheit. Was jetzt übrig ist, ist ein rappelnder Oldtimer, der dringend mal einen Ölwechsel und eine neue Schicht Lack braucht, und an dem langsam aber stetig der Rost nagt.

Einziger Dorn in meinem Auge während der Ballettvorstellung waren die kleinen, zwölfjährigen Jungs, die Palastdiener darsellten und zu diesem Zwecke von Kopf bis Fuß schwarz angemalt worden waren. Für alle, denen das nicht spanisch vorkommt: Sowas ist maximal rassistisch. Ich habe das sofort im Anschluss mit einem meiner schwarzen Freunde diskutuert, der mir beipflichtete und ebenfalls etwas schockiert war. „Sie denken, sie wären gerne der Westen, aber sie sind es eben nicht.“ war sein Kommentar. Er selbst sitzt übrigens gerade zum Russischkurs in Kirgistan, ein witziger Zufall.

Nach Ende der Vorstellung war es 21:40 und die Nacht hatte begonnen. Ich war verplant. Zhenya hatte mir Stunden zuvor geschrieben und gefragt, ob wir der Einladung eines seiner Freunde zu sich nach Hause folgen sollten, er habe „einen Plattenspieler und gute Geschichten auf Lager“. Nun, sowas lasse ich mir ja nicht zwei Mal sagen, hatte also zugesagt. Und als ich das beleuchtete, sehr goldene Opernhaus verließ, standen da draußen schon Zhenya und Alex in ihren Bomberjacken und Armeehosen und warteten auf mich.

Alex war mit dem Auto da. Ich durfte vorne sitzen, denn nur der Beifahrersitz verfügte über einen funktionierenden Sicherheitsgurt. Auf der Fahrt zu Alex nach Hause wurde ich mit Fragen gelöchert, die ich allerdings nur zu gerne beantwortete. Was ich in Israel wolle, wie es mir da gefällt, was ich studiere, was mich in die Ukraine gebracht hat, wie mir Kiev gefällt, wie das Leben in Deutschland so ist. Ich antwortete gerne und redselig, wie ich bin, erlaubte mir hin und wieder eine Gegenfrage, die ebenfalls auf begeistertes Antworten stieß.

Zhenya ist mit seiner Familie 2014 von der Krim geflohen, da ist er aufgewachsen. Als sie gegangen sind, wussten sie nicht, dass es Russen waren, die da Soldaten schickten. Für sie waren es Terroristen oder Rebellen, also packten sie ihre sieben Sachen und zogen in eine Kleinstadt auf dem Festland. „Und mein Land hat nichts gemacht. Kein Schuss, kein Toter. Wir haben sie die Krim einfach nehmen lassen.“

„Hättest du es lieber anders gehabt?“

„Ich will nicht, dass Menschen sterben, und ich will auch keinen Krieg. Aber ich finde auch, dass wir unser Land hätten verteidigen müssen. Wie sieht denn das aus, wenn wir Russland einfach alles überlassen, was es will? Wir hätten was tun sollen.“

Wir hielten an einem kleinen Supermarkt. Vor dem Bierregal bekam ich das kleine Einmaleins der lokalen, ukrainischen Biere erklärt, und die Jungs griffen nach einer Flasche, die sie für würdig befanden, von mir getrunken zu werden. Bezahlen durfte ich nichts, ich war eingeladen. Und zehn Minuten und eine kurze Autofahrt später saßen wir in Alex‘ Küche, in einem dieser sozialen Wohnungsbauten, irgendwo in Kiev.

Sowohl bei meinen Gastgebern als auch bei Alex ist alles super sauber und ordentlich. Nur eben ärmlich. Möbel sind rar, oft steht im Hauptraum wenig mehr als ein Bett und ein Kleiderschrank, manchmal noch ein kleiner Tisch mit einem Stuhl. In der Küche ein kleiner Tisch und zwei wackelnde Hocker, das war’s. Alex ist leitender Data-Analyst.

Auf dem Balkon erklärt er mir bei einer Zigarette, wie es so aussieht in der Ukraine. „Hier bist du entweder arm oder reich. Eine Mittelklasse gibt es nicht, oder kaum. Eintweder du bist Millionär, oder du bist wie wir.“

„Und wie wird man reich?“ frage ich, als sei ich dämlich. Aber ich konnte mir die Frage nicht verkneifen. Alles, was Alex sagte, klang nach einem so endgültigen Urteil, dass ich mal hören wollte, ob es für die Armen, zu denen sich Zhenya und Alex ganz augenscheinlich zählten, eine Perspektive gab.

„Wenn du jemanden in der Regierung kennst.“ meldete sich Zhenya trocken.

„Also Korruption?“

„Ja. Du bist entweder arm, oder korrupt. So ist es eben.“

Als Alex und Zhenya aufgeraucht hatten, saßen wir wieder in der Küche. Es war kalt, ich zitterte, doch die Zentralheizungen waren bereits vor drei Tagen abgeschaltet worden, trotz der Minusgrade in der Nacht. Im Hintergrund liefen The Ventures mit ihrem unverkennabr amerikanischen Surf Rock als Schallplatte, ich hatte aussuchen dürfen, und jetzt fühlte ich mich wie im Film.

„Ich war ein paar mal in Israel.“ sagte Alex plötzlich, Bier in der Hand. „Im Vergleich zur Ukraine sind die Gehälter da phänomenal, und ich habe einen Freund in Tel Aviv, der mir einen Job besorgen konnte. Also war ich zwei Mal im Sommer da, um Geld zu verdienen. Zwei Monate jeweils. Ich liebe Tel Aviv. Es ist so schön da. Ich wollte nochmal hin, aber das hat nicht geklappt…“

„Was ist denn passiert?“

„Ich bin von Bratislava nach Eilat geflogen. Ich wollte wieder arbeiten um mir dann ein Ticket nach Südamerika kaufen zu können, aber dieses Mal haben mich die Grenzbeamten abgefangen und mich sechs Stunden lang verhört. Richtig gemein. Sie haben gesagt, dass es so eine Nationalität wie ‚Ukrainer‘ gar nicht gibt, und weißt du, sowas verletzt einen schwer, wenn man das hört. Nach sechs Stunden haben sie mich jedenfalls mit einem Polizeiauto nach Tel Aviv zum Flughafen gefahren und mich in einen Flieger zurück in die Ukraine gesetzt. Jetzt darf ich zehn Jahre lang nicht einreisen.“

Mir wurde ganz anders, als ich das hörte. Wie gemein. Israelis haben tatsächlich ein Problem mit den Ukrainern, denn nach der Revolution sind zehntausende von ihnen als „Touristen“ nach Israel gekommen und dann einfach geblieben.

„Mich frustriert das so“ sagte ich „dass Menschen einfach aufgrund ihres Passes solche Probleme haben. Das hat mich schon damals in Vietnam frustriert, es frustriert mich in Israel, und es frustriert mich hier. Ist ja nicht so, als hätte ich mir ausgesucht, dass ich deutsch bin, genauso wie ihr euch nicht ausgesucht habt, dass ihr Ukrainer seid.“

„Ich hab’s mir ausgesucht“ meldete sich Zhenya wieder „ich hatte einen russischen und einen ukrainischen Pass, meine Eltern sind aus Russland und ich bin da geboren. Mir vierzehn musste ich mich entscheiden, und habe festgelegt, dass ich Ukrainer bin. Aber es war einfach nur die Wahl zwischen zwei beschissenen Optionen. Die eine schien nur ein bisschen weniger beschissen als die andere…“

Letztes, großes Gesprächsthema des Abends war Chernobyl. Sowohl Alex als auch Zhenya sind noch nie da gewesen. Alex möchte lieber durch einen Loch im Zaun mit seinem eigenen Geigerzähler. Das ist zwar höchst Illegal, denn Chernobyl ist vom Militär bewacht, aber „so viel besser für’s Adrenalin.“

Zhenya möchte irgendwann mal hin, aber Chernobyl ist nur Nummer 3 auf seiner Reiseliste. Erst will er zurück nach Hause auf die Krim, dann will er unbedingt mal die Karpaten sehen, erst dann kommt Chernobyl. Als ich von diesen bescheidenen Reiseplänen höre, kriege ich Gänsehaut. Ich werde die Karpathen sehen, und ich werde auch nach Chernobyl fahren. Für Zhenya sind das alles Träume, die er sich nicht leisten kann.

„Wenn du nach Pripyat kommst, wirst du sehen, dass es keine Heizkörper mehr in den Häusern gibt. Die haben sie damals alle geklaut und verkauft, trotz der Strahlung, das hat hier keinen interessiert. Die Leute sind arm und brauchten Geld. In Fukushima war das nicht der Fall, die Japaner haben einen anderen Lebensstandard und denken gar nicht daran, dass man mit Metall Geld machen könnte. Hier war das anders. Und niemand weiß, was mit dem Metall passiert ist. Vielleicht ist es in diesem Messer hier“ sagt Alex und wedelt mit Besteck.

Zum Abschied zeigt er mir Analogfotos, die er auf der Krim geschossen hat, in 2017. Ist wirklich schön da. Vielleicht kann ich mir das irgendwann mal selbst angucken, und vielleicht kann Zhenya irgendwann wieder nach Hause fahren.

2 Antworten auf „Kiev: Eine Nacht“

Liebe Klara, so schlimm habe ich es mir nicht vorgestellt, ich dachte, auch dort wäre es besser geworden. Die Haare stehen mir hoch auf der Haut.
Gestern habe ich noch etwas von meiner ukrainischen Perle gehört. Es gibt dort keine Krankenversicherung und das ist für uns nun gar nicht vorstellbar. Ihr Vater muss nun auf die Op warten bis sie hier das Geld zusammengeputzt hat.
Nee, ich sehe ein, die Reise ist für dich Abenteuer. Meinem Körper haben aber die gelebten Jahre ( 1949 bis 1989 ) offensichtlich gereicht, das spüre ich beim Lesen. Nun kommt noch Tschernobyl und Rumänien.
Macht’s gut. Inge

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