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Am Puls Europas – Von der Ratio und Emotionen

Zum zweiten Mal stand ich heute, an einem Sonntag, bei strahlendem Sonnenschein auf dem Gendarmenmarkt und schwenkte euphorisch inmitten tausender Gleichgesinnter eine azurblaue Flagge mit einem Ring aus 12 goldenen Sternen – ich war bei Pulse of Europe, der allwöchentlichen Pro-Europa Demonstration. Die Bewegung ist ein echtes Phänomen, quasi über Nacht von der Schnapsidee eines Frankfurter Ehepaares zu einer europaweiten Erscheinung geworden. Da fragt man sich doch, was da plötzlich passiert ist mit all den Eurokritikern und Politikverdrossenen. Ich hab da so eine Ahnung.

Pulse of Europe wird gerne hoch gelobt und harsch kritisiert. „Toll, dass endlich mal wieder jemand für und nicht gegen etwas auf die Straße geht, toll, dass die Europäische Union gerade jetzt so viele Befürworter hat!“ sagen die einen, während die Gegenseite in Dauerschleife die emotionale Aufladung jedweder politischer Diskussionen kritisiert. Da wird über den allgemeinen Verlust der Ratio gesprochen, über das sich-nicht-genug-informieren, über ein blindes Mitlaufen mit der Masse, Richtung erstmal egal. Und was soll ich da sagen, sie haben natürlich Recht.

Politik ist plötzlich wieder in, ist wieder schick geworden, hat die holzvertäfelten Versammlungsräume, angefüllt mit grauhaarigen Tweedjackettträgern und erfahrenen Wirtschaftsfunktionären verlassen und sich wie ein sanfter Sommerregen auf die breite Masse der Bevölkerung gelegt. Toll, möchte man sagen. War lange überfällig, möchte man meinen. Und da stimme ich zu. Es ist auch weniger die Frage nach dem „was“, als die Frage nach dem „wie“, welche die Kritiker beschäftigt.

Das Problem scheinen nämlich nicht die plötzlich so selbstverständlich weit verbreiteten politischen Meinungen selbst zu sein, sondern viel mehr ihre Entstehungsgeschichte. Die SPD erfährt einen monumentalen Zuwachs an potenziellen Wählern und Parteimitgliedern, den sie zweifelsohne „The Schulz“ höchst persönlich zu verdanken hat – wie viele davon das Parteiprogramm oder den Lebenslauf des Kanzlerkandidaten tatsächlich gelesen haben, bleibt fraglich. Und so verhält es sich scheinbar mit jeder Partei, mit jeder politischen Gesinnung da draußen: Sie beruhen eher auf einem Gefühl, einer Emotion, geformt durch die medial geförderte Aufbruchstimmung, die vom sozialen Umfeld so gerne geäußerten Meinungen, als auf sachlich reflektierten Fakten und guter Information. Denn es darf ja (dem Himmel sei Dank!) jeder seine Meinung äußern. Doch scheinen viele zu vergessen, dass „dürfen“ nicht mit „müssen“ einhergeht, und werden schnell sehr laut, ohne ihre „Meinung“ auch mit einer bestätigenden Faktenlage unterfüttern zu können. Das ist Marketing vom Feinsten. Für Politik, das ist richtig und gut. Doch leider auch für eine irrationale Diskussionskultur.

„Das System, in dem freie Menschen zu allen Dingen frei sich äußern dürfen, besitzt bedauerlicherweise keine integrierte thermostatische Regelsteuerung, kann also selbst nicht verhindern, dass sein unvergleichlicher Vorteil sich auf die Dauer zu einem Laster deformiert, indem nun die Menschen oder Leute nicht mehr aus freien Stücken reden, sondern unter einen manischen Äußerungszwang geraten. Gerade der Verschämteste wird von der Lust geplagt, sich zu zeigen, im unerfahrbaren Raum umzähliger Gäste sich darzubieten. Von allen Sondersensationen des Sexus hat der Exhibitionismus weltweit den Sieg davongetragen.“ schrieb Botho Strauß kürzlich so treffend in seinem Essay in der Zeit.

Das kann man kritisieren, und trägt damit ein valides Argument vor.

„Ich mache das nicht.“ denkt ihr jetzt wahrscheinlich „ich bin informiert, ich lese Zeitung, höre Radio, gucke Tagesschau, habe das Parteiprogramm gelesen.“ – eine Falle, in die auch ich beinahe getappt wäre, so gut ist sie getarnt. Doch ich musste mir eingestehen, dass ich mitten drin sitze in ihr, zusammen mit euch, und wir uns dabei auch noch toll gebildet und sachlich debattierend vorkommen.

Denn wer kann sich frei machen von dem Vorwurf, dass sich die Ignoranz wie ein tiefer, unüberwindlicher Graben durch linke und rechte Gesinnungen zieht? AfD-Wähler werden von mir sehr gerne sehr schnell links – verzeihung – rechts liegen gelassen und pauschal über einen Kamm geschoren. Rechte Nationalisten, irrationale Wutbürger, einer ernsthaften Diskussion nicht würdig, da sowieso bereits an den braunen Mob verloren. Und genau das ist das Problem. Wir hören nicht mehr zu.

Dieses Nichtzuhören würde ich übrigens eindeutig als einen der Hauptgründe anführen, weshalb es überhaupt erst zu einer so starken Rechten kam. Würde man nämlich einmal zuhören, ernsthaft zuhören, würde man feststellen, dass sich hinter AfD-Wählern und PEGIDA-Mitläufern nicht nur ausländerfeindliche Neonazis verbergen, sondern zum allergrößten Teil frustrierte, besorgte, vergessene Bürger die keinen anderen Ausweg gesehen, kein anderes Sprachrohr mehr gefunden haben als das des Widerstandes. Wer keine Zukunftsperspektive hat, verzieht sich in eine nostalgisch verzerrte Erinnerung an die Vergangenheit und ruft, er sei das Volk. Damit er sich selbst daran erinnert, dass er eben doch noch dazugehört, wo er sich so vernachlässigt fühlt.

Ich möchte das übrigens nicht rechtfertigen. Ich finde, dass sich auch diese Wählergruppe in der Pflicht befindet, sich zu informieren, anstatt nur mitzugrölen. Doch da gibt es eben, wie bei allen Bürgern momentan, ein echtes Defizit. Das muss sich ändern.

Mit dieser Erkenntnis ausgerüstet stellte sich mir nun die Frage, was ich denn tun sollte. Man will ja schließlich mit der Mode gehen, und da Politik gerade das tragbarste Thema überhaupt ist, muss man als guter Hauptstadtstudent ja irgendetwas machen. Nun schien mir, alle Menschen dazu zu zwingen, vor  der Wahl die Parteiprogramme zu verinnerlichen, doch ein unrealistisch hoch gestecktes Ziel. Irgendetwas anderes musste her. Und dann kam Pulse of Europe.

Pulse of Europe hat keinen klar politischen Hintergrund. Politiker dürfen auf der Veranstaltung nich sprechen, dafür jeder Bürger, der mal was sagen will. Da werden bewegende Geschichten erzählt, von den Kindern und Enkelkindern der Holocaustopfer, multinationalen Familien und ehemaligen DDR-Bürgern. Da wird gejubelt und geklatscht und am Ende mit instrumentaler Begleitung die Ode an die Freude geschmettert. Das ist bewegend, das reißt mit – und hält genau so wenig Lösungsvorschläge bereit wie die ewig meinungsbasierte Debatte. Und genau darum geht es.

Während das laute Rufen, das stolze Singen, die Wut, die Aufbruchstimmung, kurz: die Emotionalisierung der politischen Meinungsbildung bisher links- und rechtsextremen Randgruppen vorbehalten war, formiert sich aktuell eine liberale Mitte, die auch mal eine Fahne schwenkt, die Hoffnung verbreitet anstatt sachlich zu diskutieren.

Woher die plötzlich kommt, ist gar nicht so schwer zu verstehen: Es gibt einen gemeinsamen Angreifer, gegen den es sich stark zu machen gilt.

Das ist kein außergewöhnlicher Effekt. Während sich die Dorfjugend früher bei uns  gerne mal in unterschiedliche Lager aufteilte, um sich zu bekriegen, war sie sich nie so einig, ein Team zu sein, wie wenn das Nachbardorf zum Fußballderby antrat. Deutschland ist nie so von patriotischem Zusammenhalt geprägt wie zur Fußballweltmeisterschaft. Ist sowas Zufall? Liegt das am billigen Nationalflaggen-Merchandising? Nein. Das liegt an einem gemeinsamen Opponenten. Und ie Gruppe der EU-Opponenten ist in den letzten Jahren stätig und bedrohlich gewachsen.

Putin, Erdoğan und Trump bedrohen von außen, während Le Pen, Wilders und von Storch das System von innen aufzubrechen drohen. Da hat man endlich wieder was, wogegen man sich gemeinsam stark machen kann. Endlich wieder einen Gegner, endlich wieder jemanden, gegen den wir gleicher Meinung sein können. Anstatt über die Krümmung von Gurken und die Erhebung von Mautgebühren zu diskutieren, haben wir endlich wieder ein grundsätzlicheres Thema, auf das sich leichter eine Antwort finden lässt. Geschlossene Fragen lassen keinen Raum für diffizile Debatten. Anstatt zu nach dem „Wie krumm?“ oder „Maut für wen?“ zu fragen, was unausweichlich eine unüberschaubare Anzahl von Meinungsnuancen hervobringt, in denen sich jeder frustriert und unterrepräsentirt fühlt, fragen wir jetzt nur noch: „EU – ja oder nein?“ was in genau zwei Meinungsgruppen resultiert. Da kann man endlich wieder laut werden. Endlich wieder eine Gefühlsdynamik entwickeln. Grundsatzfragen schweißen zusammen, und machen Hoffnung darauf, dass man dieses Mal tatsächlich etwas bewegen kann. Jetzt können wir in feinster WM-Manier zu einer positiv gestimmten Interessengemeinschaft zusammenwachsen und der Politik die Emotion zurückgeben, die sie braucht.

Mit Sachlichkeit gewinnt man nämlich die Masse nicht. Noch nie. Ein MacBook von Apple ist technisch gesehen ganz sicher nicht der beste Computer, trotzdem der teuerste – weil die Marke so schön emotionalisiert wurde. Da können Lenovo und Microsoft mit noch so vielen technischen Daten um sich werfen, wütend wie ein Rumpelstielzchen. Gegen Emotionen hilft kein Argument. So auch in der Politik.

Und deshalb gehe ich singen, rufen, Fahne schwenken. Wenn ich in meinen Marketingvorlesungen eines gelernt habe, dann ist es, dass sich positive Gefühlswelten immer besser verkaufen als Angstwerbung. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass das mit der EU was wird. Weil wir für etwas sind, und nicht dagegen. Weil wir lachen und singen anstatt vor Wut zu schreien. Weil Gutmensch schöner klingt als Wutbürger. Und weil Sonntags in Berlin immer die Sonne scheint.

 

2 Antworten auf „Am Puls Europas – Von der Ratio und Emotionen“

Wau, da hast du dir aber mühe gemacht, deinen sonntags ausflug zu analysieren. ich kann dir natürlich zustimmen. probleme habe ich andere, ich habe deinen blog nur sehr zufällig gefunden. früher bekam ich immer in facebook mit, wenns aus deinem mund / feder was neues gab. obwohl ich deinem blog auf wordpress folge , kriege ich von denen keine nachricht. kannst du nun nicht einen eigenen dienst organisieren oder eine drohne als ersatz für brieftauben bei deinen fans rumschicken? klar für irgendwas ist auch facebook gut!
fröhliche ostern und gute rückfahrt in die hauptstadt. inge

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