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Wir müssen raus gehen.

Ich bin 1994 geboren. Jeder, der sechs Jahre älter, zwei Jahre jünger als ich oder irgendwo dazwischen ist, darf sich wohl gut und gerne als Kind der 90er Jahre bezeichnen. Wir sind groß geworden zwischen Moon Shoes, der Gummibärenbande, Kaugummiautomaten und dem vorwurfsvollen Piepen unserer hungrigen Tamagotchis, haben unsere Scout-Ranzen und 4You-Rucksäcke mit runden Rücken auf den Schulhof geschleppt, um mit Pokemonkarten und Diddlblättern zu dealen. Haben uns cool gefühlt mit einer Kaugummizigarette im Mundwinkel, und noch heute stecken einem jedem von uns die Choreografien zum Ketchup Song oder dem Macarena im Blut.

Doch vor allem sind wir in Sicherheit aufgewachsen. Unberührt von politischen Unstimmigkeiten, unsere Eltern voller Hoffnung für die nächsten Jahre. Die Mauer war gefallen, Deutschland war wieder eins, es ging voran, es sah gut aus. Ich erinnere mich deutlich daran, wie mein Vater früher oft sagte, dass wir in einer Friedensperiode von noch nie dagewesener länge leben und uns glücklich schätzen sollten, dass wir das erleben dürfen. Dass es uns so gut geht. Dass wir uns so sicher fühlen. Dafür sollten wir dankbar sein.

Wenn ich so zurückdenke, habe ich diese Aussage schon immer eher als eine Drohung als als eine Beruhigung empfunden. Wenn uns Geologen in wissenschaftlichen Dissertationen haarklein darlegen, dass und weshalb der Ausbruch des Supervulkans unterm Yellowstone-Nationalpark mittlerweile mehrere tausend Jahre überfällig ist, dann ist das ja auch eher eine beunruhigende Information als die Bestätigung unser aller Sicherheit. Und so fühlte sich auch immer die Feststellung meines Vaters zum Frieden in Deutschland an. Wie eine noch nicht spruchreife, dennoch bereits leise in der Ferne klingelnde Katastrophenwarung. Und offensichtlich sollte er nicht ganz Unrecht haben.

Unsere politische Unschuld und unsere naive, unreflektierte Sorglosigkeit verloren wir Kinder der 90er Jahre wohl alle am selben Tag: Dem 11. September 2001. Es war das erste Mal, dass wir uns mit einem tatsächlichen, politischen Kriegsakt konfrontiert sahen, ob wir es nun verstehen konnten oder nicht. Ich – wie sehr wahrscheinlich auch jeder andere von euch – erinnere mich noch sehr deutlich an den Tag. Ich spielte gerade im Garten, als meine Mutter mich ins Haus rief: Ich sollte schnell reinkommen und mit fernsehen, etwas „ganz schlimmes“ sei passiert. Der Moment ist in meinem Kopf noch sehr präsent. Der dicke, weiße Wohnzimmerteppich unter mir, der dicke Röhrenfernseher versteckt im Wohnzimmerschrank vor mir, und darauf ein Filmstreifen in Dauerschleife, in welchem immer wieder zu sehen war, wie zwei Flugzeuge in das World Trade Center in New York flogen. Nur wusste ich damals natürlich nicht, was das World Trade Center war, was das Wort „Terrorismus“ bedeutete, oder weshalb das ganze überhaupt ein so großes Drama war, dass man mich deshalb extra vor den Fernseher konsultieren musste – normalerweise wurde ich von jenem Gerät so gut es ging ferngehalten.

Weiter ging es in Klasse 4: Ebenfalls eine Erinnerung, die sich sehr tief in mein politisches Gedächtnis eingeprägt hat.  Ich spielte Mäusejagd mit vier meiner Klassenkameraden. Einer von ihnen war Felix, zwei Jahre älter als der Rest der Klasse und damit vier Jahre älter als ich, als ADHS-Kind hatte er zwei Jahre auf einer Sonderschule verbracht. Vielleicht erinnert sich der ein oder andere von euch an Mäusejagd: Jeder Spieler bekommt eine Holzmaus mit Schwanz aus Bindfaden in die Hand gedrückt, die Mausekörper liegen sich berührend in der Mitte des Tisches und jeder Spieler hält seine Maus am hintersten Ende des Schwanzes fest. Ein Spieler ist die Katze, hat einen Plastikbecher in der Hand, den er ohne Vorwarnung auf den Tisch hinabschnellen lässt mit dem Motiv, so viele Mäuse wie möglich unterm Becher in Gefangenschaft zu bringen. Die Mäusespieler versuchen, ihre Maus durch schnelles Ziehen am Mauseschwanz vor diesem Schicksal zu bewahren. Eine sehr simple Angelegenheit. Jedenfalls saß ich da und spielte nichts ahnend Mäusejagt, als Felix an der Reihe war, die Katze zu spielen – und jedes Mal, wenn er den Becher mit einer deutlich wahrnehmbaren Erschütterung auf den Tisch knallte, laut rief: „OSAMA BIN LADEN HAT ZUGESCHLAGEN!“ Während ich nicht wusste, was er damit eigentlich meinte, nahm ihn unsere Klassenlehrerin zur Seite und arrangierte ein Treffen mit Felix‘ Mutter.

Wenn ich weiter in meinem Gedächtnis krame, finden sich noch einige solcher Episoden aus meinem Leben, doch diese beiden sind ganz sicher die frühesten und fundamentalsten in meiner Bibliothek. Wahrscheinlich, weil sie damals etwas ganz erschütternd neues und ungewohntes waren, eine Neuheit, etwas ganz skurriles – und das könnte ich heute von ihnen wahrscheinlich nicht mehr behaupten.

Ereignisse wie diese haben sich nach unserer Grundschulzeit immer mehr verdichtet. Langsam, aber stetig. Ein paar Tote hier, eine Bombe da, eine Kriegserklärung dort. Ich lernte, was Nuklearwaffen sind, was die Worte „Drohne“ und „Attentat“ bedeuten, und, dass wir keine Angst zu haben brauchten, denn das war alles ganz weit weg. Wir kinder der 90er sind in den Terror hineingewachsen und haben irgendwann zwischen unserem 6. und 12. Labensjahr Scheuklappen aufgesetzt bekommen, ein Versuch unserer Eltern, uns so unbeschwert groß werden zu lassen, wie sie es von Anfang an für uns vorgesehen hatten.

Während für meinen Vater als Kind ein Glas Nutella ein ausgewachsenes Weihnachtsgeschenk gewesen war und meine Mutter im Sportunterricht noch Handgranaten-Weitwurf übte, waren für meine Zukunft nicht nur der Sichere Job zum Ernähren einer Familie, sondern Selbstverwirklichung und Glückseligkeit vorgesehen. Die Kinder meiner Generation wurden mit dem Gedanken großgezogen, dass sie etwas besonderes seien. Sie, als Individuum, könnten die Welt verändern. Sie könnten zum Mond fliegen oder Präsident werden, wenn sie es nur wollten. Sie hatten den wundervollsten Partner verdient, den Job, der sie am meisten erfüllen würde, unabhängig von Gehalt und Prestige. Wir sollten so frei und glücklich werden, wie es unsere Kindheit gewesen war. Nur leider war unsere freie, glückliche Kindheit zu einem großen Teil eine Illusion, die die Generation unserer Eltern und Großeltern für unser und nicht zuletzt ihr eigenes Seelenheit erschaffen hatten. Ein blindes Auge für die Entwicklungen im nahen Osten hat uns so lange so ruhig schlafen lassen, hat uns unsere so solide und sichere Basis beschert. Und ich will mich ganz sicher nicht beschweren. Ich bin sogar überzeugt davon, dass wir diesem Fundament heute viel zu verdanken haben – doch dazu später. Was ich jetzt sagen möchte, ist: Die Fassade bröckelt. Ganz gewaltig. Und all das, was wir in den letzten 20 Jahren so wundervoll zu verdrängen wussten, stürzt jetzt sintflutartig auf uns nieder – Auf uns Kinder der 90er, junge Erwachsene, die doch von Kindesbeinen an davon überzeugt waren, dass ihnen diese wunderbar sichere Welt mit all ihren Möglichkeiten für immer offen stehen würde. Und jetzt das.

Jetzt jagd eine Katastrophe die andere. Und so sehr wir uns auch bemüht haben, die Scheuklappen so lange wie möglich aufzubehalten, so sind wir ihnen mit über 20 Jahren doch langsam entwachsen, und außerdem spielen sich die einst so fernen Kriegszenen immer dichter vor unseren Haustüren ab. Da können wir nicht mehr ignorieren, da müssen wir was tun. Und was tun wir Individualisten qua Geburt? Denken.

Wir denken. Jeder für sich, manchmal in kleinen Gruppen, aber hauptsächlich allein. Warum? Na weil wir doch so felsenfest davon überzeugt sind, dass wir – dass ich – der Mensch sein könnte, die eine Person, die alles ändert, die alles besser machen wird. Die zum Mond fliegt und Präsidentin wird, solange sie es nur unbedingt will, und (und das ist ganz wichtig!) bitte auch noch Spaß an der Sache hat. Deshalb sitzen wir alle in unseren Kämmerlein, schreiben Notizen, brüten über weltpolitischen Verschwörungstheorien und Amerikanischen Regierungsmanifesten, die uns WikiLeaks Gott sei Dank so anwenderfreundlich zur Verfügung stellt.

Keiner ist mehr in einer Partei, aber jeder hat eine Agenda.

Doch dabei hat jeder, den ich auf meinen Reisen treffe und der mehr im Sinn hat als billigen Alkohol und schöne Frauen, politische Ansichten, die meinen doch sehr ähnlich sind. Wenn bei einem Lao-Bier am Lagerfeuer in Pai sieben Nationen von vier Kontinenten zusammensitzen, gibt es keinen Schwanzvergleich. Keine Diskussionen darüber, ob die USA tatsächlich auf dem Mond waren oder ob Russland aufgrund des ganzen Erdöls die wahre Supermacht der Welt ist, kein Verlagen nach Mitleid für die Sklaven im eigenen Land oder Beschwerden über die letzten Wirtschaftssanktionen. Keine Vorwürfe, kein Gejammer. Weil jeder von uns weiß, dass es nicht wir sind, die das entscheiden. Wenn bei einem Lao-Bier am Lagerfeuer in Pai sieben Nationen von vier Kontinenten zusammensitzen, gibt es nur einen Konsens. Wir müssen was ändern. Und zwar bald.

Alleine sind wir Pessimisten. Beinahe jeder, mit dem ich mich bisher auf meinen Reisen unterhalten habe, lehnt eigene Kinder ab. Adoption ja, man will ja Mutter/Vater sein, aber noch ein Individuum in diese Welt setzen – da ist sich keiner mehr so richtig sicher. Echt, das kommt öfter vor, als man vielleicht denken mag. Doch ich bin davon überzeugt, dass die Hoffnung in uns allen noch nicht gestorben ist.

Weshalb sonst gibt es plötzlich so viele Veganer. So viele Unternehmer. So viele freiwillige Helfer, so viele Meinungsäußerer, Gutmenschen, Weltverbesserer? Doch ganz sicher nicht, weil sie alle denken, dass sie die Katastrophe damit lediglich um ein, zwei, vielleicht zehn Jahre nach hinten verschieben…?

Irgendwo auf dem Weg zum Jetzt haben wir das Gruppendenken verloren. Und dabei ist das der Schlüssel, der dieser Welt tatsächlich noch helfen könnte.

Wir brauchen Hippies und Punks, die weiße Rose, Blockupy. Seit Jahrhunderten sind junge Menschen auf die Straße gegangen um das zu verändern, was die alten gerade verbockt haben. Deshalb darf ich meine Meinung hier so frei äußern, deshalb darf ich als Frau wählen gehen, deshalb sind die Amerikaner aus Vietnam abgerückt, deshalb ist in Deutschland die Mauer gefallen. In unserer Geschichte war es immer das Spannungsfeld zwischen prestigeträchtigen Bedenkenträgern und jungen Stürmern und Drängern, aus dem etwas neues, etwas besseres gewachsen ist. Und das ist gut so,

Wir brauchen beide. Wir brauchen Politik und ihre Funktionäre. Wir brauchen Obama und wir brauchen auch Putin, Merkel, Erdogan, und ja, auch Beatrix von Storch. Aber wir brauchen eben auch die jungen Wilden. Die Studenten, die Querdenker, die Neumacher. Doch die sitzen gerade vor ihren Notizbüchern und Bildschirmen und hecken einen Weltrettungsplan aus, den sie alleine leider nie in die Tat umsetzen werden – während die Alten sich vor der Haustür gerade kinntief in einen „‚Du bist doof!‘ ‚Nein, DU bist doof!'“-Streit verstrickt haben, der uns alle bald ordentlich was zu kosten droht.

Die brauchen uns Freunde. Die können das nicht alleine. Und um fair zu sein: Die MUSSTEN das auch noch nie alleine können. Also geht raus. Trefft euch. Organisiert euch. Macht was. Wir haben alle dieselbe Idee und nennen sie nur anders. In unseren Notizbüchern stehen dieselben Weltrettungspläne, nur in unterschiedlichen Handschriften.

Und falls euch das noch nicht genug motiviert: Ihr könnt heute auf dem Weg zur Weltrettung ja dem Himmel sei Dank auch ein paar Pokemon fangen.

Es soll ja schließlich nicht langweilig werden.

3 Antworten auf „Wir müssen raus gehen.“

Sehr schön geschrieben. Kann nicht sagen, dass ich alles zu Hundert Prozent genauso sehe, aber das ist ja irgendwo auch die Essenz..?!
Keep up the good work and save travels.

Gleich nach Deiner so nachdenkenswerten Schrift las ich vom Dalai Lama:der Planet braucht keine erfolgreichen Menschen mehr.Der Planet braucht dringend Friedensstifter,Heiler,Erneuerer Geschichtenerzähler und Liebende aller Art.—-Wir haben es nicht geschafft.-Werdet Ihr es meistern?R.K.

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